(zg) Sylvia Kotting-Uhl (MdB), atompolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, las auf Einladung des Grünen Ortsverbandes Sinsheim aus dem Tagebuch ihrer letzten Reise nach Fukushima. Im gut besuchten Saal des „Grünen Baum“ zeichnete sie für das interessierte Publikum drei Jahre nach dem GAU die Stimmung in Japan nach.
Die mit Fotos unterlegten Eindrücke der Politikerin hinterließen bei den Zuhörern in Sinsheim große Betroffenheit.
Sylvia Kotting-Uhl spricht vom „atomaren Dorf“, das keinen Ort meint, sondern den Machtkomplex, der geprägt ist von der Verfilzung von Politik, Energieunternehmen und Medien. Einer, der sich mit diesem Komplex angelegt hat, ist Japans Ex-Premier Naoto Kan, heute einer der engagiertesten Atomkraftgegner Japans. Wie viele seiner Landsleute interessiert er sich seit dem GAU von 2011 dafür, wie der Atomausstieg in Deutschland vorbereitet und Schritt für Schritt vollzogen wird. Deutschland als Energiewende- und Atomausstiegs-Musterland.
Kan ist einer von vielen Gesprächspartnern, die Kotting-Uhl auf ihrer Japan-Reise im vergangenen Dezember getroffen hat. An zehn Tagen führte sie Gespräche mit Wissenschaftlern, Nichtregierungs-Organisationen, Mitgliedern einer Stiftung für erneuerbare Energien, Politikern oder Parteien und besuchte den Atomreaktor Fukushima Daiichi.
Mit Wissenschaftlern der Universität Honsei besuchte Sylvia Kotting-Uhl unter anderem Tomioka, eine evakuierte Stadt nahe Fukushima. Kontaminiertes Erdreich lagert dort in großen Säcken: „Wohin diese am Ende sollen, weiß niemand“, so Kotting-Uhl. Spielzeug und Gartenmöbel zeugen von fluchtartigem Verlassen, verwildert sind die einst akkurat gepflegten Vorgärten. Dort nimmt sie „das Schleichende, das Unfassbare der atomaren Strahlung“ besonders wahr, erschreckender noch als die sichtbaren Zerstörungen des Tsunami, die sie in Japan schon sechs Wochen nach der Katastrophe sah.
Im Gespräch mit Sozialwissenschaftlern darüber, wie man von Deutschlands Erfahrungen mit dem Atomausstieg lernen könne, versteht sie einmal mehr, dass Japan noch am Anfang eines langen Weges steht. Der Vergleich mit der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung vor 30 Jahren drängt sich ihr auf. Allerdings stelle der Schritt, die Dinge beim Namen zu nennen, in Japan eine ungleich höhere Hürde dar: Disziplin und Höflichkeit verbieten es Japanern, Kritik zu üben oder gar zu protestieren. Die vielen Organisationen von Ausstiegs-Befürwortern und Vorkämpfern für eine Wende hin zu erneuerbaren Energien erlebt Kotting-Uhl als sehr engagiert. Leider fehle die Vernetzung und entsprechend gering sei meist die öffentliche Wahrnehmung, die ihrer Meinung nach nötig ist, um etwas zu bewirken. Sogar die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchungskommission, die die Regierung Abe zur Aufarbeitung des Atomunfalls einsetzte, würden offiziell nicht beachtet.
Sehr bedauerlich findet die Politikerin, dass Deutschland die positiven Erfahrungen mit dem Ausstieg nicht offensiv in die Welt trägt. Anstatt stolz auf die großen Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu verweisen hält man sich fast schamhaft zurück.
Kotting-Uhls Fazit: „Wenn es ein Land gibt, das gute Voraussetzungen für erneuerbare Energien hat, dann ist es Japan.“ Nicht nur passende geografische und klimatische Bedingungen sprechen dafür, sondern auch hervorragende Wissenschaftler und Universitäten. Wie lange es braucht, bis die „tiefe narzisstische Kränkung“ heilen kann, die das technologieaffine Land durch die Traumatisierung des 11. März 2011 erfahren hat, könne dabei niemand ermessen.
Quelle: Anja Wirtherle