Anna Müller (Name geändert) ist heute 63 Jahre alt. Sie hat eine angeborene Geistesschwäche. Bis vor 25 Jahren stand sie unter Vormundschaft. Das hieß für sie, dass sie (damals wegen Geistesschwäche) entmündigt und nicht geschäftsfähig war, weil „eine Unfähigkeit zu einer sinnvollen Lebensgestaltung“ festgestellt wurde. Das bedeutete, sie durfte weder einen Mietvertrag unterzeichnen noch einen Kühlschrank oder ähnliches kaufen, selbst wenn sie das Geld dazu selbst verdient hatte. Frau Müller arbeitete als Putzhilfe, doch das verdiente Geld durfte sie nur nach Rücksprache mit ihrem Vormund verwenden. Nicht einmal den Arbeitsvertrag durfte sie selbst abschließen. Dies änderte sich zum 1. Januar 1992. An diesem Tag trat das neue Betreuungsrecht in Kraft.
Danach wurde ein rechtlicher Betreuer für Frau Müller bestellt, in dessen Aufgabenbereich zwar auch die Themen Gesundheit, Aufenthalt und Vermögen lagen, aber sie war nun in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen – und die Frau war nicht mehr entmündigt. „Das neue Recht stand für einen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Umgang mit behinderten, psychisch kranken und alten Menschen. An die Stelle von Entrechtung, Stigmatisierung und anonymer Verwaltung trat als neues Leitbild, hilfebedürftigen Menschen Würde und Selbstbestimmung, Schutz und qualifizierte Hilfe zu verbürgen“, erklärt Tillmann Schönig, Leiter der Betreuungsbehörde im Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis, die es in dieser Form seit 25 Jahren gibt. Das Nebeneinander von Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft wurde damals durch das neue Rechtsinstitut „Betreuung“ abgelöst. Danach sollte in die Rechte der betreuten Personen nur soweit eingegriffen werden, als dies zu deren Wohl unumgänglich ist und die Betreuten sollten soweit als möglich ihr Leben nach eigenen Wünschen und Fähigkeiten gestalten können. Die Bestellung einer Betreuung sollte auch keine Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit mehr haben.
Auch sprachlich hat sich was geändert
Der Paradigmenwechsel machte sich auch in der Sprache bemerkbar. Es wird niemand unter Betreuung gestellt, sondern es wird eine rechtliche Betreuung eingerichtet oder ein Betreuer zur Wahrnehmung seiner Angelegenheiten bestellt. Eines der Ziele der damaligen Reformen lautete, die Kosten zu reduzieren. Die Zahl der eingerichteten Betreuungen stieg allerdings von rund 440.000 im Jahr 1992 auf aktuell etwa 1,3 Millionen. Zur Reduzierung der Kosten wurde für die Vergütung der Berufsbetreuer 2005 eine Pauschale eingeführt, die seitdem nicht mehr erhöht wurde.
Zudem sollte durch das neue Betreuungsrecht auch die Selbstbestimmung der Menschen gestärkt werden. Im Jahr 1999 erfolgte im ersten Änderungsgesetz die Aufgabe an die Betreuungsbehörden und die Betreuungsvereine, die Vorsorgevollmachten verstärkt zu bewerben. Weitergehend wurde 2009 mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts die Patientenverfügung ins BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) eingefügt. Damit war eindeutig geregelt, dass Patientenwünsche zu beachten sind, und zwar unabhängig vom Stadium einer Krankheit. „Betreuer und Vorsorgebevollmächtigte sind an den ausdrücklichen Willen des Betroffenen gebunden. Sie sollen keine eigene Entscheidung treffen, sondern den Willen des Betroffenen durchsetzen“, erläutert Tillmann Schönig. Überhaupt steht für alle Tätigkeiten, die die ehrenamtlichen Betreuer – meist Familienangehörige und seltener sogenannte Fremdbetreuer – oder Berufsbetreuer ausüben, das Wohl der Betroffenen an vorderster Stelle.
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die am 26. März 2009 ratifiziert wurde, unterstreicht das Recht eines jeden kranken und behinderten Menschen auf Selbstbestimmung und Schutz vor (staatlicher) Fremdbestimmung. Häufig werden Betreuungen durch Betreuungsvereine geführt, von denen es im Rhein-Neckar-Kreis und Heidelberg zwei gibt: den SKM Heidelberg/Rhein Neckar sowie den ARV mit Sitz in Leimen. Deren Aufgabe besteht unter anderem in der Werbung und Begleitung von ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern sowie in der Beratung zu Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen. Mit einer Vorsorgevollmacht bevollmächtigt man eine andere Person, im Fall einer Notsituation alle oder bestimmte Aufgaben für den Vollmachtgeber zu erledigen.
Wie geht es nun nach 25 Jahren weiter für Anna Müller mit ihrer rechtlichen Betreuung? Sie kann ihre Rechte teilweise selbst wahrnehmen und darf Verträge abschließen. Zudem darf sie wählen, was sie früher nicht durfte und was immer noch einigen Betreuten, für die in allen Bereichen eine rechtliche Betreuung eingerichtet ist, verwehrt ist. „Frau Müller hat ihre Würde wieder. Ihr Betreuer hat die Aufgabe, ihren Willen zu ergründen um keine ersetzende Entscheidung, sondern eine unterstützende Entscheidung für sie zu treffen. Er hat nach ihren Vorstellungen und Wünschen zu handeln“, fasst Schönig zusammen.
Für den Leiter der Betreuungsbehörde im Landratsamt gibt es keinen Grund, uneingeschränkt 25 Jahre Betreuungsrecht zu feiern, aber es habe sich durchaus einiges zum Wohle der Betreuten getan. Wichtige Themen für die nächsten Jahre seien unter anderem die weitere Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention, das Wahlrecht für alle und die Reduzierung freiheitsentziehender Maßnahmen durch mechanische Vorrichtungen oder Medikamente. „Aufgrund steigender Lebenserwartung der Menschen rückt das Thema der rechtlichen Betreuung zunehmend in den Fokus“, stellt Sozialdezernentin Stefanie Jansen mit Blick auf das 25-jährige Bestehen der Betreuungsbehörde fest.
Fragen rund um das Betreuungsrecht beantworten gerne die Betreuungsbehörden des Rhein-Neckar-Kreises und der Stadt Heidelberg, die Betreuungsvereine sowie die zuständigen Betreuungsgerichte. Die Betreuungsbehörde des Rhein-Neckar-Kreises ist per Telefon 06221/522-2500 oder per E-Mail an [email protected]<mailto:[email protected]> zu erreichen.